Butter bei die Fische!

 

Eine nachrevolutionäre Gesellschaft soll den Kapitalismus ablösen, und der ist eine Produktionsweise. Deshalb gehört zu einer Debatte um einen neuen Sozialismus, wie sie in konkret l, 3,4 und 6/15 geführt wird, auch die Frage, wodurch der Kapitalismus denn eigentlich abzulösen ist.

 

Aus: konkret 09/2015

 

Wenn ich Sozialismus höre, muss ich an Büroklammern denken. Sozialisten schlagen sich, wenn es darum geht, Kapitalismus abzulösen, üblicherweise auf die Seite des »Machbaren«, des scheinbaren Realismus, so dass bei ihnen viel zu verbuchen und abzuheften ist – aber vom Übergang in eine befreite Gesellschaft nichts übrigbleibt. Diese verengte Perspektive des »Machbaren«, der »Sachzwänge«, hat nie zu etwas Gutem geführt und wird es auch in Zukunft nicht.

Doch auch wenn man als Konsequenz daraus die nachrevolutionäre Gesellschaft vor allem als Negation des Kapitalismus denkt und den Bruch mit den derzeitigen Verhältnissen schärfer fasst, als Sozialisten das tun, muss man sich doch mit einigen ökonomischen (und daraus folgend politischen) Zwängen beschäftigen.

Zwischen befreiter Gesellschaft und »Übergangsgesellschaft« zu unterscheiden sollte man sich dabei sparen. Denn trotz aller Erblasten des Kapitalismus muss bereits die nachrevolutionäre Gesellschaft einen guten Grund für die Revolution abgeben. Sonst würden wieder »Opfer« gerechtfertigt mit dem Verweis auf die Glückseligkeit zukünftiger Generationen – und dann sollte man es mit der Revolution besser seinlassen.
Eine nachrevolutionäre Gesellschaft soll den Kapitalismus ablösen, und der ist eine Produktionsweise. Deshalb gehört zu einer Sozialismusdebatte auch die Frage, wie das gehen soll, wodurch der Kapitalismus denn eigentlich abzulösen ist. In den bisherigen Beiträgen standen Themen wie Geschichtsbezug, Ideologie oder Zweck-Mittel-Relation im Mittelpunkt, während drei zentrale Fragen eine Leerstelle blieben, die zu den Dauerbrennern linksradikaler Theoriebildung gehören:

 

• Was kann man heute bereits über die Grundlagen einer Ökonomie der befreiten Gesellschaft sagen?
• Was kann man heute bereits über die politische Organisation der befreiten Gesellschaft sagen?
• Und was folgt daraus für die politische Praxis?

 

Wenn die radikale Linke diesen Fragen nicht (weiter) nachgeht, kann sie nur hoffen, dass der Kapitalismus noch möglichst lange weiterwütet, denn sinnvoll zu beerben ist er dann nicht.

 

Erst kommt das Fressen…


Auch in der befreiten Gesellschaft werden in komplexen arbeitsteiligen Prozessen Konsum- und Produktionsmittel hergestellt werden müssen. Und zwar auf erweiterter Stufenleiter, wenn die Marxsche Aussage zutreffen soll, dass »disponible Zeit« zum neuen Maß des Reichtums wird, man also technischen Fortschritt will, der Arbeit spart und nicht bloß Kosten.

Wie das im Detail aussehen wird, kann und muss man jetzt noch nicht wissen. Zu den Grundzügen einer nachrevolutionären Ökonomie kann man aber schon einiges sagen, ohne in das von Adorno mal so genannte »Auspinseln« zu geraten. Denn die Anzahl von Produktionsweisen, die es entweder schon gegeben hat oder die aus einer Kritik der bisherigen zu erschließen sind, ist noch halbwegs überschaubar.

Einige kolportierte »Alternativen« zum Kapitalismus verfallen selbst der marxistischen Kritik. Das gilt, wenn man »Alternative« überhaupt so weit fasst, für den linken Keynesianismus, wie er im DGB und in der Linkspartei hegemonial ist. Das gilt aber auch für Marktsozialismus, wie ihn unter anderem der »radikalere« Rest der Linkspartei favorisiert: Hier sollen »ökonomische Hebel« wie Wettbewerb und Preismechanismus gesellschaftliche Planung ergänzen. So sollen vor allem zwei Probleme des Realsozialismus vermieden werden: das Informationsdefizit der Planer und die ineffiziente Ressourcenverwendung. Denn die ökonomischen Hebel funktionieren im Modell ungefähr sowie im Kapitalismus: Sie »bestrafen« ökonomisch unerwünschtes Verhalten automatisch, ohne dass es dazu der Intervention irgendeines Akteurs (Planbehörde, Räte oder ähnliches) bedürfte. Alle marktsozialistischen Varianten können jedoch einen zentralen Widerspruch nicht aufheben: Wären die »ökonomischen Hebel« wirklich wirksam, dann trügen sie dazu bei, den Sozialismus dem Kapitalismus immer ähnlicher zu machen. Federte man aber ihre Resultate aus politischen bzw. sozialen Gründen ab (weil zum Beispiel die in der »sozialistischen Konkurrenz« Unterlegenen doch nicht pleite gehen sollen), dann verminderte das entscheidend die Wirksamkeit der Hebel. Das Scheitern des Realsozialismus war auch ein Scheitern entsprechender Versuche.

Neben unterschiedlichen Varianten von Marktsozialismus wurden in den vergangenen Jahren vor allem verschiedene Ansätze von »Commonismus« oder »Peer-Ökonomie« als Grundlage einer nachkapitalistischen Produktionsweise diskutiert. Diese Konzepte reagieren auch auf einen schweren Mangel des Realsozialismus. Der scheiterte nicht an der Unmöglichkeit einer funktionierenden Planwirtschaft, sondern vor allem, weil es verheerend ist, mit Mitteln der Herrschaft zum Kommunismus kommen zu wollen. Die Peer-Ökonomie tritt dagegen als völlig herrschaftsfreie Ökonomie auf. In ihr sollen – wie bei Wikipedia – die einzelnen Akteure nur an genau den Projekten mitarbeiten, die sie für sinnvoll halten. Elektronisch vernetzt bilden sich immer neue Teams von »Problemlösern«, gehen wieder auseinander, setzen sich neu zusammen. Als Grundmodell für gesellschaftliche Reproduktion taugt die Peer-Ökonomie allerdings nicht. Ihre Verfechter unterschätzen die Zwänge materieller Reproduktion (Müllabfuhr und Deichbau funktionieren nicht wie Wikipedia) ebenso wie die Gewalt informeller Hierarchien. Beidem ist nur mit vernünftigen Organisationsformen zu begegnen, mit Institutionen und nicht mit einer Auflösung aller Institutionen in eine Gesellschaft von einzelnen.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Es gibt zu einem ökonomischen Gesamtplan mit verbindlichen Entscheidungen auf zentraler Ebene keine vernünftige Alternative. Nur ein demokratisch beschlossener Wirtschaftsplan gibt den Leuten die Herrschaft über die materiellen Bedingungen ihres Lebens zurück. Es mag sehr viel dezentral entschieden werden können, es mögen peer-ökonomisch organisierte Projekte in die Entwicklung oder in die Produktion integrierbar sein, an der Notwendigkeit zentraler Koordinationsinstanzen ändert das nichts.

 

Das Monster an die Leine nehmen


Damit hat man als herrschaftskritischer Linksradikaler ein Problem: Eine Planwirtschaft auf gesellschaftlicher Ebene ist ein sinnvolles, ein notwendiges politisches Ziel. Aber sie ist zugleich ein Monstrum. Sie schafft an zahlreichen Stellen der Gesellschaft Abhängigkeiten, die zu Machtmitteln werden können und so die eigentlich möglich gewordene Befreiung verhindern. Es wird nach der Revolution auf unbestimmte Zeit von vielen Gütern weniger geben, als gut wäre. Es wird Leute geben, die einige ihrer Interessen (etwas bauen oder abreißen wollen, anders oder weniger arbeiten, umziehen) zurückstellen müssen, weil die Dinge, die sie brauchen, oder Menschen, die ihnen helfen können, noch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Leute an gewissen Schaltstellen der Produktion, Verteilung, Planung drohen deshalb wichtiger zu werden als andere, weil sie anderen bei der Verfolgung ihrer Interessen unter die Arme greifen können.

Es käme also auf politische Institutionen an, die es ermöglichen, Interessengegensätze herrschaftsfrei zu vermitteln. Wie solche Institutionen aussehen könnten, ist eher noch schwerer zu umreißen als die Grundzüge einer Planwirtschaft, und dementsprechend ist die linksradikale Diskussion dazu auch weniger umfangreich. Es fehlen die Erfahrungen. Die alten rätekommunistischen Überlegungen gehen in die richtige Richtung; dennoch soll man aber nicht glauben, dass zum Beispiel Arbeiterräte der Weisheit letzter Schluss sind. An Entscheidungen über Veränderungen in einem Produktionsprozess oder über den Umbau von Infrastruktur sollten alle beteiligt werden, die von diesen Entscheidungen betroffen sind, nicht nur die daran Arbeitenden. Was wohl nur über miteinander verwobene Räte auf unterschiedlichen Verantwortungsebenen gelänge (Produktionsstätte, Region, Nutzer und so weiter). Doch das Verhältnis von Verbindlichkeit der Entscheidungen und Autonomie der einzelnen Akteure bleibt problematisch. Hier sind noch viele Fragen zu diskutieren.

Aber, könnte jetzt eingewandt werden, sind diese Fragen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht völlig verfrüht? Nein, sind sie nicht. Institutionen einer befreiten Gesellschaft sind nicht am Reißbrett zu entwickeln, schon gar nicht solche Institutionen, die sozusagen direkt nach dem Tag X lebendig genug sind, ein Gegengewicht zur materiellen Gewalt des gesellschaftlichen Gesamtplans aufzubauen. Solche Institutionen müssen schon vor der Revolution, und das bedeutet im Kapitalismus, zumindest in Vorformen entstehen und ausprobiert werden.

 

Fragen an die Praxis


Und damit bin ich bei der dritten großen Leerstelle der bisherigen Sozialismusdebatte in konkret: Politische Organisierung hier und heute kommt darin bisher gar nicht vor. Politische Organisierung ist nicht nur ein Mittel zur Erzeugung von Gegenmacht. Sie ist auch Experimentierfeld für Formen der Auseinandersetzung, Kompromiss- und Konsensbildung. Nur aus der produktiven Kritik und praktischen Weiterentwicklung dieser Formen kann sich nach und nach ein Konzept befreiter Gesellschaft herausbilden. Und nur wenn sie sich politisch organisieren und aktiv werden, können Leute das für die Überwindung des Kapitalismus notwendige Wissen und Können erwerben, das notwendige Vertrauen in sich und andere.

Bezogen auf zwei Bereiche muss die radikale Linke Erfahrungen reflektieren und in der weiteren politischen Praxis aufnehmen: zum einen Erfahrungen mit der Übernahme von Betrieben durch die Beschäftigten. Auf der kapitalistisch den Subjekten in die Psyche gebrannten Gewissheit, ökonomisch immer nur ein ersetzbares Rädchen im Getriebe zu sein, lässt sich keine funktionierende Selbstverwaltung gründen; hier sind Gegenerfahrungen nötig. Zum anderen Erfahrungen mit antihierarchischer politischer Organisierung auf überregionaler Ebene, Organisierung, die sich gerade nicht am kurzfristigen Erfolg unter herrschenden Bedingungen orientiert (einem Wahlsieg zum Beispiel), sondern an den eigenen inhaltlichen Ansprüchen.

Solche Erfahrungen aufzunehmen muss etwas ganz anderes sein als das, was die meisten marxistischen Sozialwissenschaftler tun, nämlich irgendwo »da draußen« mit quasi ethnologischem Blick die »wirkliche Bewegung« des Kommunismus zu suchen. Es kommt auf Arbeitskontakte organisierter Menschen an, die über gemeinsame Vorhaben den Fundus an Wissen und Erfahrung vergrößern.

Gemeinsame Vorhaben zu entwickeln ist schwer genug, im ökonomischen wie im politischen Bereich. Unmittelbare Aneignung von Produktionsmitteln ist unter kapitalistischen Bedingungen oft von unmittelbarer Not bestimmt, von Arbeitslosigkeit, Armut, ist also erst mal nicht auf eine Transzendierung des Kapitalismus orientiert. Das gilt für die Fahrradfabrik in Thüringen, die Beschäftigte übernommen haben, als die Fabrikschließung beschlossen worden war. (Die von ihnen gegründete Strike-Bike GmbH ist allerdings 2010 ebenfalls pleite gegangen.) Das gilt selbst für weitergehende und in Unterstützerkreise eingebundene Projekte wie Vio.Me, eine besetzte (derzeit von einem Rechtsstreit bedrohte) Fabrik in Thessaloniki. Es ist eine noch offene Frage, wie eine linksradikale Organisierung produktiv an solche Projekte anknüpfen kann.

Und im politischen Bereich gibt es zwar überregionale Organisationsversuche mit autonom handelnden Gruppen, übergreifenden Arbeitszusammenhängen und einigen verbindlichen Entscheidungsstrukturen (wie das Ums-Ganze-Bündnis), aber die dort gemachten Erfahrungen werden mit Außenstehenden nicht diskutiert und gehen höchstens über persönliche Kontinuitäten ins kollektive Wissen der radikalen Linken ein. Eine Sozialismusdebatte sollte dazu beitragen, das zu ändern.

 

Rüdiger Mats ist Mitglied der kommunistischen Gruppe The future is unwritten in Leipzig