Vertrau‘ einfach der Lottofee!

Irgendwie hakt es im Verhältnis von Wahlvolk und gewählten Repräsentant*innen. So richtig springt der identfikatorische Funke derzeit nicht über. Man könnte das letztlich auf unterschiedliche Interessenlagen von Regierungspersonal und Bevölkerungsmehrheit im Kapitalismus zurückführen - und von dieser Grundlage aus staatliche Politik kritisieren. Zunehmend Mode aber ist gerade eine andere "Lösung": Das politische System so zu reformieren, dass sich "normale Menschen" mehr gehört fühlen. Das Konzept dazu heißt Los-Demokratie oder Demarchie.

 

 

Dingdong. Samstag, halb neun, der Briefträger klingelt. Nichts bei Amazon bestellt? Und die Briefkästen sind außen am Haus? Ah, sicher ein Einschreiben: Du hast eine Mahnung „übersehen“ oder Ärger mit dem Sozialamt. In Zukunft könnte der Grund für einen persönlichen Postbotinnen-Besuch aber noch ein ganz anderer sein: „Glückwunsch, Sie sind als Souverän ausgelost worden!“

So jedenfalls stellen sich das Fans der Los-Demokratie vor, auch Demarchie oder aleatorische Demokratie genannt (von lat. Würfel). Dabei geht es darum, dass politische Aufgaben an „Bürgerversammlungen“ übertragen werden, deren Mitglieder nicht gewählt werden, sondern ausgelost. Entweder als Beratungsgremium der Parlamente, oder, in der weitergehenden Variante, gleich als Alternative zu gewählten Vertretungen überhaupt. In Deutschland ist das Konzept verstärkt in der Diskussion, seit hier 2016 das Buch „Gegen Wahlen“ des belgischen Historikers und Demarchie-Verfechters David Van Reybrouck erschienen ist. Die Besprechungen in der FAZ und im Deutschlandfunk waren wohlwollend, WELT, taz und ZEIT waren begeistert.

 

Das Volk mitnehmen

 

Inzwischen ist die Los-Demokratie auf der großen Bühne angekommen. Im September 2019 tagte in Leipzig ein „Bürgerrat Demokratie“ unter prominentem Vorsitz des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein (CSU). Vorbereitet durch Regionalkonferenzen einigten sich 160 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger auf Empfehlungen zur Demokratiereform, die dann an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble übergeben wurden. Kostprobe: „Unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie soll durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie ergänzt werden“. Unverbindliche Reformvorschläge, vermischt mit Lob für's System und Versicherung der eigenen Demokratietreue... nun gut..

Aber es ist ja auch kein Wunder: Staatlichen Institutionen geht es bei der Los-Demokratie nicht darum, Politik emanzipativer zu machen. Es geht, wie es die Bürgermeisterin von Berlin-Tempelhof ausdrückte, wo ausgeloste Bürgerräte über Kommunalpolitik diskutieren, um „Transparenz“ und darum, auf „Angebote des Bezirks aufmerksam“ zu machen. Übersetzt heißt das: Regieren geht besser, wenn die Regierten sich „gehört“ fühlen. Es ist nicht mal ausgeschlossen, dass diese Kalkulation aufgeht. Es geht um „Leute mitnehmen“. Die Voraussetzungen allerdings, unter denen kommunalpolitische Entscheidungen getroffen werden, z.B. die Art und Weise, wie Kommunen mit Geld und Aufgaben ausgestattet werden (oder eben nicht), sind in solchen Veranstaltungen als gegeben vorausgesetzt und damit unter der Hand immer schon akzeptiert; mitreden darf man dann da, wo es um die Verwaltung von Mangel geht.

 

Auch viele Linke finden's gut

 

Besorgniserregender als die Einbindung von Demarchie in Techniken bürgerlicher Herrschaft ist, dass auch, nun ja, Linke das Konzept für sich entdeckt haben. Es gibt z.B. entsprechende Initiativen, "Bürgerräte" über Einwanderung entscheiden zu lassen (weil „normale Menschen“ angeblich empathischere Migrationspolitik machen würden als "abgehobene" Berufspolitiker*innen). Oder Extinction Rebellion: Die Gruppe fordert die Einberufung einer ausgelosten „Bürger:innenversammlung“, damit diese die "notwendigen Maßnahmen gegen die ökologische Katastrophe“ der Regierung als Hausaufgabe gebe.

Politische Gremien per Wahl zu besetzen, ist nach Ansicht solcher im weiteren Sinne linken Aleatoriker*innen undemokratisch. Mit Studium oder wenigstens Abitur eine Parteikarriere zu machen, sei viel leichter als ohne, was unterqualifizierte Gruppen massiv benachteilige. Zweitens hätten Abgeordnete ein Interesse an ihrer Wiederwahl, was sie zu gesamtgesellschaftlich irrationaler Klientelpolitik verleite: Politik als Geschenk an Wähler*innengruppen. Und drittens seien Berufspolitiker*innen die natürlichen Ansprechpartner von Lobbyist*innen. Es entwickele sich eine Symbiose von Politiker*innen und Lobbyvertreter*innen, die versuchten, ihre Sonderinteressen miteinander in Einklang zu bringen – zu Lasten der Allgemeinheit.

Demarchie geht da dem Anspruch nach einen entgegengesetzten Weg: Auslosung von Repräsentant*innen für einen kurzen Zeitraum, wenige Treffen an Wochenenden, hier vor allem Arbeit in Kleingruppen, um alle einzubeziehen. Und nach wenigen Monaten Auslosung neuer Repräsentant*innen. Also, so die Verfechter*innen dieses Ansatzes, keine Berufspolitiker, keine Herausbildung von materiellen Sonderinteressen der Abgeordneten, kein Anknüpfungspunkt für Lobbypolitik.

 

Falsches Lob der "normalen Menschen"...

 

Die Erfolge rechter Kampagnen seit 2015 und die sich abzeichnende Klimakatastrophe geben aleatorischen Parlamentarismuskritik gefühlt eine steigende Dringlichkeit: Gerade die Abgehobenheit der Parlamentarier*innen, so die Vermutung von Demarchiker*innen, treibe Menschen in rechte, irrationale Haltungen. Könnte nicht die Kassiererin aus Bocholt oder der Maurer aus Bautzen leichter von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit überzeugt werden, wenn die Chance bestünde, dass er/sie in der Bürgerversammlung einmal mitentscheiden darf? Oder wenigstens irgendeine eine andere Kassiererin und irgendein anderer Maurer?

Wenn man hier auch wohl guten Willen unterstellen muss – der inhaltliche Rückfall hinter Erkenntnisse, die sich in der Linken schon einmal etabliert hatten, ist bemerkenswert. Dass Kassiererinnen in diesem Land keine Parlamentarierinnen werden und Hauptschüler sich überhaupt selten politisch interessieren, hat vor allem etwas mit den Lebensbedingungen von Kassiererinnen und der Funktion der Hauptschule in dieser Gesellschaft zu tun, nämlich Leute bloß auf ungesunde, schlecht bezahlte Jobs vorzubereiten. Und DAS ist der eigentliche Skandal. Wer da nicht ran will, betreibt systemstabilisierende Kosmetik. Und politisch verheerender als „Klientelpolitik“ ist die Tatsache, dass Rechte gewählt werden, obwohl sie die materiellen Interessen ihrer Wähler*innen gar nicht vertreten. Um das zu verstehen, müsste man Ideologietheorie treiben, aber davon ist der Diskurs der Los-Demokrat*innen mit ihrer Begeisterung für die „normalen Leute“ weit entfernt. Der Fokus der aleatorischen Theorie liegt stattdessen auf nur einem Gegensatz: „Wir“ hier unten gegen „die da oben“, v.a. Politiker und mächtige Lobbygruppen.

 

... und ein merkwürdiges Verständnis von Repräsentanz

 

In älteren Los-demokratischen Konzepten sollte die Mitgliedschaft in den Vertretungsorganen einfach unter allen Bürgerinnen und Bürgern ausgelost werden. Spätestens mit der Adaption des Konzeptes durch linke Diskurse setzte sich aber die Auffassung durch, dass das nicht gehe, weil so in den Bürgerversammlungen viele Minderheiten gar nicht vertreten wären. Extinction Rebellion z.B. will die Bevölkerung nun auf verschiedene Lostöpfe aufteilen, so dass die Repräsentant*innen „die Bevölkerung hinsichtlich Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, sozialer Schicht etc. repräsentativ vertreten“. Das kann schon deshalb nicht „einfach so“ funktionieren, weil die Anzahl möglicher Bevölkerungsgruppen der Möglichkeit nach unendlich groß ist. Und auch wenn man sich in der Lostopfkonstruktion künstlich auf eine handhabbare Anzahl von Parametern beschränkte (Geschlecht, Alter, Beruf o.ä.), wären kleine Bevölkerungsgruppen auch in den Bürgerversammlungen - wenn überhaupt - kleine Minderheiten. Im Ernstfall wäre die Konstruktion der Lostöpfe deshalb ein politisches Kampffeld und ein Akt der Machtausübung. Das wird von den Aleatoriker*innen nicht weiter reflektiert, vermutlich vor allem deshalb, weil bei ihnen angesichts von „Menschheitsproblemen“ innergesellschaftliche Interessengegensätze kein großes Thema sind. Das spielt keine Rolle, solange über allgemeine moralisch-staatstragende Fragen verhandelt wird wie in dem oben genannten Beispiel aus Leipzig. Nur sind die politisch wichtigeren Fragen die, bei denen es um Interessensgegensätze geht.

Repräsentanz soll in der Demarchie entstehen, indem über Eigenschaften-Sets Gruppen definiert werden, die dann entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil Gremienplätze garantiert bekommen. Nur um das klar zu machen: Es ist tatsächlich skandalös, dass Frauen, POC, Behinderte, Arbeiter*innen und Angehörige vieler anderer Gruppen offensichtlich relativ geringe Chancen haben, in dieser Gesellschaft zu Repräsentant*innen gewählt zu werden. Es ist aber fatal, daraus den Schluss zu ziehen, dass Behinderte aus dem ländlichen Raum nur von Behinderten aus dem ländlichen Raum vertreten werden können, ostdeutsche Hartz-IV-Rentnerinnen nur von ostdeutschen Hartz-IV-Rentnerinnen und so weiter und so fort. Wo es um Organisierung von Interessen vor Ort gehen müsste, um gemeinsamen politischen Kampf und damit um praktisch herzustellende Solidarität zwischen unterdrückten Gruppen, geht es in diesem Konzept nur noch darum, dass die eigene Minderheit als Lostopf-relevante Teilgruppe anerkannt wird. Nebenbei: Der Autor dieses Textes würde vermutlich im Lostopf „Mittelalte weiße Heteromänner aus Sachsen“ landen und der statistischen Wahrscheinlichkeit nach von den ausgelosten Typen aus diesem Topf ganz und gar nicht "vertreten" werden. Die Demarchie, die so emanzipativ daherkommt, ist so in Wirklichkeit Ausdruck eines reduzierten Politikverständnisses.

 

Unterschätzte strukturelle Zwänge

 

Dass Macht in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften gar nicht in erster Linie über Mandate verliehen wird, kommt außerhalb von Lobbykritik bei den Aleatoriker*innen nicht so recht vor. Das wird deutlich an der Frage, wie denn den Bürgerräten eigentlich die fachlichen Grundlagen für ihre Entscheidungen vermittelt werden sollen. Schließlich sind die Mitglieder ja immer nur für ganz kurze Zeit ausgelost, eine eigene Erarbeitung von Expert*innenwissen fällt damit aus. Die Aufgabe wird „unabhängigen Expert*innen“ zugewiesen (also solchen, die eben nicht von irgendeiner Lobby gekauft sind). Dass diese „Expert*innen“-Auswahl eine eminent politische Frage ist, macht die Angelegenheit schon komplizierter, als die Demarchie-Anhänger sie sehen wollen. Sie bedeutet einen enormen Machtzuwachs der die Sitzungen vorbereitenden Organisationen, der Hauptamtlichen, der Verwaltung. Also von Leuten, die schlicht durch gar nichts legitimiert sind.

Das Prinzip der Wahl, ob nun parlamentarisch oder auf Räte bezogen, enthält immerhin Kontrollmöglichkeiten über den möglichen Entzug des Mandats: Repräsentant*innen können abgewählt oder abberufen werden. So sie denn überhaupt für nötig gehalten wird, soll Kontrolle in der Demarchie demgegenüber allein über „Öffentlichkeit“ funktionieren – ein ganz schön frommer Wunsch. Denn bürgerliche Öffentlichkeit funktioniert eben nicht wie im liberalen Modell, wo umfassend informierte, von jedem ideologischen Unsinn freie Individuen rational ihre Interessenrealsisierung aushandeln.

Doch die Vorstellung vom Citoyen, die Marx in „Zur Judenfrage“ als „idealisierte Projektion der entfremdeten Gattungswesenheit“ kritisiert hat, liegt gerade vorgeblich linken Demarchie-Vorstellungen zugrunde. Scheinbar „objektive“ Gruppenbesonderheiten sollen im Losverfahren möglichst repräsentativ abgebildet werden, hiermit dann aber bitteschön auch erledigt sein - und sich nicht etwa in dauerhafter politischer Organisierung niederschlagen. Die auf dieser Grundlage ausgelosten Repräsentant*innen sollen sich dann, ohne Rückhalt einer entsendenden Gruppe, eines Gremiums oder einer Organisation in die Laborsituation „Bürgerrat“begeben und sich im „Konsensprinzip“ dem Dienst am Großen Ganzen widmen. In Wirklichkeit sind Prozesse der politischen Bewusstseins- und Willensbildung kollektive Prozesse, keine individuellen. Entweder naturwüchsig, das endet oft übel, oder, so gut es geht, gestaltet von emanzipativen kollektiven Subjekten. Letzteres ist umso mehr erfordert, wenn es um Bewusstseinsbildung gegen die herrschenden Verhältnisse gehen soll. Zur Erinnerung: Das sind kapitalistische, patriachale Verhältnisse, in denen das unmittelbare Bewusstsein das falsche ist. Unvernünftige Interessen dominieren den Bundestag nicht aufgrund von finsteren Hinterzimmermachenschaften, sondern weil die herrschenden Verhältnisse unvernünftig sind und in ihnen falsche Interessen die „richtigen“. Soll der Schlachter aus Oer-Erkenschwick, aber eben auch der Autor aus Leipzig diesen beschränkten Horizont gedanklich und irgendwann praktisch überwinden, dann reicht es nicht, sie dreimal gemeinsam auf ein Wochenendseminar einzuladen und über Meinungen reden zu lassen. Sondern dann müssen sie die Gelegenheit haben, sich in emanzipativem Umfeld als politisches Subjekt zu erfahren, langfristig und mit anderen zusammen. Das müssten Linke auf die Kette kriegen. Und falls dann wider Erwarten immer noch jemand nach 'ner Bürgerratssitzung Schnittchen mit Günther Beckstein essen will – soll er's halt tun.